Nicht müde werden – tröstliches vor Weihnachten
Dieser Adventkalender mit 24 spirituellen Impulsen lud vor und nach Weihnachten 2020 in der Kirche zum Weiterdenken. Doch nicht nur zu Weihnachten, nein das ganze Jahr, brauchen wir Trost, Mut und Hoffnung:
Eins
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten.
(Hilde Domin)
Hilde Domin ist eigentlich keine speziell religiöse Autorin. Sie begann ihre literarische Tätigkeit in Deutschland nach ihrer Rückkehr aus dem Exil, das sie als Jüdin in der Dominikan. Republik verbrachte. Sie wollte einfach Dichterin sein, weder eine jüdische noch ein christliche.
Und dieser Dichterin begegnen wir in diesem komprimierten Gedicht, das so viel zu sagen hat. Im freien Rhythmus spricht sie von einer Gegenwelt, von einer Wirklichkeit hinter, oder besser in den Dingen, die uns umgeben.
Sie spricht vom Wunder, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. Sie spricht nicht von der äußeren Müdigkeit, sondern davon, sich innerlich nicht von der Resignation, dem „Frust“, der Ohnmacht der äußeren Umstände entmutigen zu lassen.
Und damit ist ihr Gedicht ein sehr adventlicher Text. Denn im Advent warten wir ja nicht auf das Wunder der Geburt des ganz Anderen am 24. Dezember. Sondern wir erinnern uns daran, dass dieses Wunder durch alles Geschaffene immer schon zu uns spricht. Uns berühren möchte. Uns nahe sein will – in jeder Begegnung mit Mensch und Natur.
Bereit sein, achtsam, wach – „die Hand hinhalten“ – für den Trost in allen Dingen. Hier und Jetzt.
Hilde Domin schrieb einmal zu diesem ihrem Gedicht: „Schreiben – und demnach auch Lesen – setzt dies Innehalten voraus, das Sich-Befreien vom „Funktionieren“. Nur im Innehalten, nur wenn die programmierte und programmierende Zeit stillsteht, kann der Mensch zu sich selber kommen, zu jenem Augenblick der Selbstbegegnung, der im Gedicht auf ihn wartet. Für diesen Augenblick muss er bereit sein.“
Zwei
HERBST
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
(Rainer Maria Rilke, aus: Das Buch der Bilder)
Als sich der 27-jährige Rilke 1902 in Paris aufhielt, lernte er den Maler August Rodin kennen. Dieser war mit 62 Jahren für Rilke ein alter Mann. Rilke, der von Rodin sehr angetan war, schrieb dieses Gedicht im selben Jahr. Eine frühe Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, dem Alter und dem Leben.
Heute, fast 120 Jahre später, scheinen diese Zeilen besonders geeignet zu sein, die Gestimmtheit Vieler auf den Punkt zu bringen: „Verneinende Gebärde“, „Einsamkeit“, „es ist in allen“…
Gestern haben wir noch gesprochen von „dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ Und heute heißt es: „Diese Hand da fällt.“
Wenn wir uns ohnmächtig und resignativ als Spielball stärkerer Mächte erleben: Wie soll da Adventstimmung in uns keimen? Wie kann Vorfreude wachsen auf ein Fest im deformierten familiären Rahmen? Wenn Coronaangst und trübe Herbststimmung sich auf uns legen wie eine schwere Decke, was bleibt uns da außer einer verneinenden Gebärde?
„Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“. Mit diesem Satz eröffnet uns Rilke einen völlig neuen Blick auf das, was uns umgibt: In aller Vergänglichkeit, aller Angst und Resignation, in Einsamkeit und Hilflosigkeit sind wir umfangen, gehalten und geborgen. Die wahre weihnachtliche Botschaft wird sichtbar: Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Im Geschehen in der Krippe erinnern wir uns daran, dass Gott uns seine Hand reicht – immer schon.
Drei
Der Mann mit den Bäumen
Ein älterer Mann in Frankreich. Seine Frau ist gestorben, dann auch sein einziger Sohn. Wofür soll er jetzt noch leben? Er lässt seinen Bauernhof in einer fruchtbaren Ebene zurück. Nur 50 Schafe nimmt er mit. Er zieht in eine trostlose Gegend, in den Cevennen, fast eine Wüstenlandschaft. Dort kann er vielleicht vergessen.
Weit verstreut liegen fünf Dörfer mit zerfallenen Häusern. Die Menschen streiten sich; viele ziehen fort. Da erkennt der ältere Mann: diese Landschaft wird ganz absterben, wenn hier keine – Bäume wachsen!
Immer wieder besorgt er sich einen Sack mit Eicheln. Die kleinen sortiert er aus. Auch die mit Rissen wirft er fort. Die guten kräftigen Eicheln legt er in einen Eimer mit Wasser, damit sie sich richtig vollsaugen. Er nimmt noch einen Eisenstab mit, dann zieht er los. Hier und dort stößt er den Eisenstab in die Erde, legt eine Eichel hinein.
Nach drei Jahren hat er auf diese Weise 100 000 Eicheln gesetzt. Er hofft, dass 10.000 treiben. Und er hofft, dass Gott ihm noch ein paar Jahre schenkt, so weitermachen zu können. Als er im Jahre 1947 im Alter von 89 Jahren stirbt, hat er einen der schönsten Wälder Frankreichs geschaffen. Da gibt es einen Eichenwald von 11 km Länge und 3 km Breite an drei verschiedenen Stellen.
Und was sonst noch geschehen ist? Die unzähligen Wurzeln halten jetzt den Regen fest, saugen Wasser an. In den Bächen fließt wieder Wasser. Es können wieder Weiden, Wiesen, Blumen wachsen. Die Vögel kommen zurück.
Selbst in den Dörfern verändert sich alles: die Häuser werden wiederaufgebaut, angestrichen. Alle haben wieder Lust am Leben, freuen sich, feiern Feste. Keiner weiß, wem sie das zu verdanken haben; wer die Luft und die ganze Atmosphäre verändert hat.
(Aus: Willi HOFFSÜMMER, Kurzgeschichten 1)
Auch wenn diese Erzählung „nur“ eine Kurzgeschichte des französischen Autors Jean Giono aus dem Jahr 1953 ist, ergreift sie uns unmittelbar. Und erinnert uns daran, dass die vielen kleinen Gesten des Alltags es wert sind, getan zu werden: Das Maske tragen, Abstand alten, ein Lächeln schenken, die ritualisierten Haushaltshandgriffe wieder und wieder zu tun, sich freuen an kleinen Dingen – eben kleine Eicheln einpflanzen…
Anders gesagt: Wer sich ständig nur mit dem Lockdown/Corona usw. beschäftigt, wird trostlos, wie diese Gegend in den Cevennen. Sperrt sich selbst ein zweites Mal ein.
„Bereitet dem Herrn den Weg, ebnet ihm die Straßen“ – wie vielfältig kann diese weihnachtliche Menschwerdung gelebt werden!
Vier
Heute kann er kommen
Auf einer Halbinsel des Comer Sees träumt die Villa Acronati einsam vor sich hin. Nur der Gärtner lebt da, und er führt auch die Besucher. „Wie lange sind sie schon hier?“ „24 Jahre.“ „Und wie oft war die Herrschaft hier in dieser Zeit?“ „Viermal.“ „Wann war das letzte Mal?“
„Vor zwölf Jahren,“ sagte der Gärtner. „Ich bin fast immer allein. Sehr selten, dass ein Besuch kommt.“ „Aber Sie haben den Garten so gut instand, so herrlich gepflegt, dass ihre Herrschaft morgen kommen könnte.“ Der Gärtner lächelte: „Oggi, Signore, oggi!“ (Heute, mein Herr, heute!)
(Willi HOFFSÜMMER, Kurzgeschichten 4)
Die Villa Acronati (auch bekannt als Villa del Balbianello) gilt als Schmuckstück am Comersee. Sie ist heute im Besitz einer Stiftung für Denkmalpflege und Naturschutz und kann gegen Eintritt besucht werden.
Die kleine Erzählung spricht die Zeit an, als Graf Guido Monzino im Besitz dieses Anwesens war. Das war von 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 1988. Seine zahlreichen Polarforschungs-Expeditionen ließen ihm wenig Zeit, dieses Juwel zu genießen. Heute liegt er hier an seinem Lieblingsort begraben.
Und was erzählt uns diese Geschichte?
Der Paradiesgarten Erde ist etwas in die Jahre gekommen. Jedenfalls aus der Sicht des Menschen. Mindestens so sorgenvoll wie auf Corona blicken wir auf die Zukunft unseres Planeten. Papst Franziskus schreibt dazu gleich am Beginn seiner Umweltenzyklika „Laudato si“: „Diese Schwester, die Mutter Erde schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen, die Gott in sie hineingefügt hat… Wir vergessen, dass wir selber Erde sind (vgl. Gen 2,7).“ Und weiter schreibt er: „Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schließt die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen, denn wir wissen, dass sich die Dinge ändern können… Die jungen Menschen verlangen von uns eine Veränderung. Sie fragen sich, wie es möglich ist, den Aufbau einer besseren Zukunft anzustreben, ohne an die Umweltkrise und an die Leiden der Ausgeschlossenen zu denken.“
Auch daran erinnert uns diese Geburt im Stall. Sie hält die Sehnsucht nach diesem Paradies wach. Lenkt unseren Blick an den Rand, auf das Kleine, Beschützenswerte. Nicht müde werden – nicht erst morgen handeln, sondern heute – es lohnt sich.
Fünf
Erinnere mich!
In der Stadt Ropschitz wohnen – wie überall – die reichen Leute einsam am Rande der Stadt. Sie bestellen Männer zum Schutz gegen Diebe. In dieser Stadt wohnt auch Rabbi Naphtali.
Er geht eines Tages am Rand des Waldes spazieren. Dabei stößt er auf einen solchen Wächter auf seinem Patrouillengang. „Für wen gehst du?“ fragt er den Wächter. Der gibt ihm Bescheid, stellt jedoch die Gegenfrage: „Und für wen geht ihr?“
Das Wort trifft den Rabbi wie ein Pfeil.
„Noch gehe ich für niemand“, bringt er mühsam hervor und geht lange schweigend zusammen mit dem Wächter auf und ab. Schließlich fragt der Rabbi unvermittelt: „Willst du mein Diener sein?“
„Das will ich gern“, erwidert der Wächter, „aber was ist meine Aufgabe, was habe ich zu tun?“ „Mich zu erinnern“, sagte Rabbi Naphtali und geht heim.
(Willi HOFFSÜMMER, Kurzgeschichten 3)
Eine Frage wie ein Pfeil: Für wen gehe ich? Wem oder welcher Sache widme ich mein Leben? Wofür setze ich mich immer wieder aus innerster Überzeugung ein?
Die Frage irritiert. Mag die spontane Antwort lauten: „Für niemand“ oder auch „Für mich selbst“, so kommt uns vielleicht bei näherer Betrachtung in den Sinn: der Arbeitgeber, der Partner/die Partnerin, die Familie, Freunde, das Hobby oder meine politische Gesinnung.
Die Frage aber umfasst alle diese Bereiche und noch mehr: Was ist meine Grundhaltung, meine Ursehnsucht, die in all meinen Handlungen durchschimmert? Was suche ich in meinen alltäglichen Routinen tatsächlich?
Die Geschichte erinnert stark an Mt 6,24: „Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.“
Advent und Weihnachten sind in diesem Zusammenhang Wächter, die uns erinnern. Erinnern daran, wie ich Mensch werden kann. Was alles möglich wäre. Welche Schätze es wert sind, dass ich mich für sie einsetze. Nicht von ungefähr erinnert uns Jesus in der Einleitung zu Mt 6,24: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“
Nicht müde werden – die Schätze warten – hier und jetzt!
Sechs
Ein anderer Blick für die Dinge
Bischof Jacques Gaillot ist bei einer Familie eingeladen. Zwei weitere Familien sind auch noch zu Gast. Alle drei Familien haben eines gemeinsam: Sie haben alle einen mittlerweile erwachsenen autistischen Sohn. Bischof Gaillot schreibt:
„Während des gemeinsamen Essens staune ich, mit welcher Sensibilität diese Menschen einander zuhören, wie unkompliziert sie miteinander umgehen und wie sehr ihr Verhalten von Bescheidenheit geprägt ist. Jetzt stelle ich ihnen die Frage, die mir schon lange auf der Zunge liegt: „Was haben sie denn selbst von ihren autistischen Kindern gelernt?“ Die Antwort kommt ohne Zögern und in aller Klarheit: „Sie haben uns beigebracht, auf das Wesentliche zu kommen. Wir haben durch sie den wahren Wert der Dinge und den Sinn des Lebens entdeckt. Ja, eigentlich können wir sagen, wir haben alles von ihnen gelernt.“
(aus: Jacques GAILLOT, Keine Angst vor klaren Worten)
Wie oft sind wir schon mit der Frage konfrontiert worden: „Wie kann Gott das zulassen!?“ All das Leid, die Ungerechtigkeiten, die ungleichen Ausgangssituationen unter den Menschen, … Die biblische Antwort auf diese Frage schimmert auf allen Seiten der Evangelien durch: Beginnend mit den – zugegebener Maßen – legendenhaften Erzählungen der Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas bis zur Beschreibung der Umstände des Todes Jesu: Die Grundbotschaft ist immer dieselbe: Ein Gott, der sich für uns arm macht, klein, hilflos, angreifbar, der sich an den Tisch setzt mit den Randgruppen, solidarisch mit den gesellschaftlich Geächteten, den Außenseitern, der jede menschliche Autorität relativiert, sei sie politischer oder auch religiöser Art, der seine Jünger erwählt aus dem einfachen Volk, der vor allem zu den Armen predigt, dem seine Kritik am religiösen und politischen Establishment zum Verhängnis wird, usw..…
Anders gesagt: Gott wird Mensch, weil er uns mit seiner Liebe nahe sein will. Nicht als Mächtiger am Herrscherhof, zu dem wir bewundernd aufschauen, sondern als Kind am Rand der Gesellschaft, das die Liebe in uns hervorlocken will. In uns Menschen mit den mehr oder weniger ausgeprägten Zügen eines Autisten: Wie oft ziehen wir uns zurück, wie oft verweigern wir Kommunikation, wie oft ist uns das Hemd näher als der Rock, wie oft sind wir hilflos oder verweigern selbst Hilfe….
Weihnachten lädt uns ein in eine besondere Schule: Die göttliche Schule der Menschlichkeit: Auf das Wesentliche sehen lernen. Den wahren Wert der Dinge entdecken. Den Sinn des Lebens erahnen. Im Kleinen das Große erleben.
Wer hätte das erwartet, dass das Wunder/das Göttliche/das ganz Andere/… sich uns auf diese Weise zu nähern versucht…
Sieben
„Advent wäre die Zeit, unsere Süchte wieder in Sehnsucht zu verwandeln. Jeder von uns kennt Süchte, innere Abhängigkeiten. Da sind nicht nur die in die Augen fallenden Süchte wie Alkoholismus, Drogensucht, Medikamentenabhängigkeit, Arbeitssucht, Beziehungssucht, …, Kaufsucht, Esssucht, Spielsucht. Sobald wir abhängig werden von einem Verhalten oder von einem Ding, bildet sich in uns eine Suchtstruktur aus. Wir können ohne das Verhalten oder ohne das bestimmte Ding nicht mehr sein.
Die Kunst bestünde darin, dass wir unsere Süchte genau anschauen und die Sehnsucht darin entdecken, die uns zeigt, dass unser Verlangen über das Alltägliche und Banale hinausweist. Letztlich steckt darin die Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies.“
(aus: Anselm GRÜN, Vergiss das Beste nicht. Inspiration für jeden Tag)
Der deutsche Benediktinerpater Anselm Grün weiß, wovon er spricht. Als Führungskräftetrainer, Autor spiritueller Bücher und international gefragter Referent bezeichnet er als einen Grundpfeiler seiner Spiritualität die Einsicht, dass man sich nicht an sich selbst vorbei zu Gott „hin-schwindeln“ kann. Selbstbegegnung und Gottesbegegnung würden einander bedingen und bereichern.
Bietet nicht die heurige Adventzeit, auch coronabedingt, wieder die Chance, genauer hinzuhören auf alles das, was unseren Alltag ausmacht?
- In der „Den-andern-nicht-zu-Wort-kommen-lassen-Sucht“ den Wunsch nach Anerkennung herausspüren, die ich aber nicht erzwingen, sondern mit nur schenken lassen kann…
- In der „Ich-bin-besser/klüger/gebildeter/…als-die-Andern-Suchthaltung“ die Angst vor der Selbsterkenntnis wahrnehmen, dass mich nichts unterscheidet von meinen Mitmenschen. Und diese meine Überheblichkeit eine versteckte Form von Selbstkritik darstellt…
- In der „Immer-das-Haar-in-der-Suppe-suchen-Sucht“ die Sehnsucht danach entdecken, dass mich die anderen schätzen und gern haben…
- Die „Geltungssucht“, die „Ich-bin-ja-so-zu-bedauern-Sucht“, die „Schwarzseher-Sucht“, …
Nicht von ungefähr heißt es bei Mt 7,3: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“
Nicht müde werden und den kleinen Alltagssüchten ins Auge schauen – auf der Suche nach Heimat, Geborgenheit und dem Paradies…
Acht
Manchmal
Manchmal, wenn ein Vogel ruft
oder ein Wind geht in den Zweigen
oder ein Hund bellt im fernsten Gehöft,
dann muß ich lange lauschen und schweigen.
Meine Seele flieht zurück,
bis wo vor tausend vergessenen Jahren
der Vogel und der wehende Wind
mir ähnlich und meine Brüder waren.
Meine Seele wird Baum
und ein Tier und ein Wolkenweben.
Verwandelt und fremd kehrt sie zurück
und fragt mich. Wie soll ich Antwort geben?
(aus: Hermann HESSE, Das Lied des Lebens. Die schönsten Gedichte)
Hermann Hesse schrieb dieses Gedicht 1904, mit 27 Jahren. Es ist das Jahr, in dem sein erster Roman Peter Camenzind herausgegeben wird (stark autobiographisch, erzählt das Buch von einem Mann, den seine überschwängliche Liebe zur Natur auszeichnet). Es ist dasselbe Jahr, in dem sich Hesse intensiv mit dem Leben des Hl. Franziskus auseinandergesetzt hat.
Als ich in der 7. Klasse Gymnasium unbedingt bei einem Hesse-Projekt mitmachen wollte (ich war damals begeisterter Hesse-Leser), stolperte ich über dieses Gedicht, das mich seither nicht mehr losgelassen hat. Auch wenn mir meine Textvertonung von damals längst nicht mehr in Erinnerung ist: der Text selbst bringt bis zum heutigen Tag in mir etwas zum Klingen, schlägt mich in seinen Bann:
Die alte – heute zerbrochene – Einheit mit der Natur, das Schweigen dieser unendlichen Räume, die verwandelnde Kraft der Begegnung mit dem Urgrund. Das eigentlich anderswo zu Hause sein (es war Heinrich Böll, der diesen Sachverhalt so zur Sprache brachte: „Der Mensch ist ja ein Gottesbeweis: Die Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben -, dass wir hier auf dieser Erde nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause sind. Dass wir also noch woanders hingehören und von woanders herkommen.“)
Advent und Weihnachten laden uns ein, unsere positiven Lebenskräfte zu bündeln. Uns unseres eigentlichen Ursprungs bewusster zu werden. Die alte Einheit mit sich selbst und der Schöpfung wieder einzuüben. Und in dieser heiligen Einfalt (nicht im Sinne des Einfaltspinsels, sondern des unmittelbaren Zugangs zu Mensch und Welt und Gott) staunen, wahrnehmen und sich freuen können wie Franziskus.
Neun
Stellen Sie sich vor, Sie fühlen sich nicht wohl und sind schlechter Laune. Dabei werden Sie durch eine wunderbare Landschaft gefahren. Die Gegend ist herrlich, aber Sie sind nicht in der Stimmung, etwas aufzunehmen. Ein paar Tage später kommen Sie wieder an diesem Ort vorbei und rufen aus: „nicht zu glauben! Wo war ich nur, dass ich das alles nicht gesehen habe?“
Alles wird schön, wenn Sie sich selbst ändern.
Oder Sie schauen durch regennasse Fensterscheiben auf Wälder und Berge, und alles sieht verschwommen und formlos aus. Am liebsten würden Sie hinausgehen und diese Bäume und Berge verändern. Doch warten Sie, untersuchen wir zuerst einmal Ihr Fenster. Wenn der Sturm sich legt und der Regen nachlässt und Sie durch das Fenster schauen, stellen Sie fest: „Alles sieht auf einmal anders aus.“
Wir sehen Menschen und Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie wir sind. Darum ist es auch zweierlei, wenn zwei Menschen ein Ding oder einen anderen Menschen betrachten. Wir sehen Dinge und Menschen nicht wie sie sind, sondern wie wir sind.
(aus: Weihnachten mit Anthony de MELLO: Texte für alle Tage der Advents- und Weihnachtszeit)
Advent und Weihnachten haben zum einen viel zu tun mit äußeren Abläufen, erschöpfen sich aber nicht in diesen. Advent und Weihnachten sind im Wesentlichen eine innere Haltung, eine Gestimmtheit, eine Grundentscheidung. Wenn dieses Innere stimmig ist, wird von den äußeren Geschehnissen viel Druck genommen.
Wir können Advent und Weihnachten nicht machen, sondern wir dürfen uns beschenken lassen – wie von einer herrlichen Landschaft oder einem Menschen, der unsere Wege kreuzt.
Was trübt meinen Blick, was engt mein Sehfeld ein, was macht meine Wahrnehmung arm? „Prüft alles, und behaltet das Gute.“ Diese Anregung gilt nicht nur dem Rund-um-mich-herum, sondern besonders auch der Selbstwahrnehmung: Ich schaue tiefer in mich hinein, lasse alles Negative, Unfertige, Unzulängliche an mir hinter mir und hole alles das zum Vorschein, was gut an mir und in mir ist. („Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.“)
Das Wunder der Menschwerdung kann nur so in den Blick kommen. Die neue Sicht auf Mensch und Welt kann nur stattfinden, wenn ich das Geschenk meines Lebens bejahe. Wenn ich das Unerwartete in mir ankommen lasse.
Durch diese Veränderung in mir wird sich alles verändern.
Zehn
Barbarazweigeln
Alle paar Jahr hab i’s wieder probiert –
Barbarazweigeln – nix hat si grührt.
Was hab i alles, dass s’aufgehn, tentiert.
Alles umsunst. Kane hat blüaht.
Heuer hab i kane Gschichten mehr gmacht.
Auffi am Ofen, wiast es hast bracht,
und hab des Graffelwerk nimmer beacht.
Aufgangen sans! Heut in der Nacht!
Was denn? Auf d‘Letzt no a neucher Beginn?
Blüaten und Blatteln in Weiß und in Grün –
Jetzn teits blüahn, wo die Wünsche dahin?
(aus: Weihnachten mit Trude MARZIK)
69 Jahre war Trude Marzik alt, als sie dieses Buch herausbrachte. Als sie im Dezember 2016 93-jährig verstarb, hinterließ diese großartige Wiener Mundartdichterin 20 Bücher, großteils mit Gedichten, aber auch Prosatexten. Alle Bände sind ausgezeichnet mit liebevollem Humor und Wiener Charme. Schon zwei Jahrzehnte lang sind mir ihre Texte geschätzte Begleiter und gern gehörte Gustostückerln bei meinen musikalischen Lesungen.
Gerade ihr Humor mit Tiefgang übt einen Reiz aus, dem man sich schwer entziehen kann. So auch bei diesem kleinen Kunstwerk. Das Brauchtum rund um die Barbarazweige bedarf ja keiner näheren Erklärung. Es geht viel mehr um das, was Marzik noch hineingepackt hat.
„Nicht müde werden sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ Wir erinnern uns an Hilde Domins Miniaturkunstwerk. Marziks Gedicht könnte man als kleine, humorvolle Abwandlung davon betrachten.
Sind „die Wünsche einmal dahin“, was bleibt dann noch? Das „wunschlos Glücklichsein“, oder doch wohl eher das „wunschlose Unglück“, wie Peter Handke eines seiner Bücher tituliert? Marzik deutet subtil an, dass ein Neubeginn sehr schwer ist, wenn die Wünsche verschwunden sind – weil einen das Warten zermürbt hat, weil zu viele Wünsche unerfüllt geblieben sind, weil die meisten Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzt sind.
Wenn die Hoffnung auf einen Neuanfang verloren gegangen ist, wird Weihnachten schwer auszuhalten sein. Ist doch Weihnachten der Inbegriff von sich ändern, sich versöhnen, sich einlassen auf etwas völlig anderes… Es ist eine Art „Hoffnung wider alle Hoffnung“, also dass man, wenn man auch schon alle Hoffnung hat fahren lassen, trotzdem festhält an der Zusage „Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5b).
Barbarazweige sind ein beredtes Symbol dafür, dass seit der Geburt in der Krippe die Zeichen auf Hoffnung stehen – dass selbst die finsterste Nacht dem Tag weichen muss und im unscheinbaren dürren Zweig ein Keimen uns neu belebt…
Elf
Zwölf
Klopfzeichen der Rettung
Eine Gruppe Bergleute war in ihrem Stollen durch einen Erdrutsch von der Außenwelt abgeschlossen. Die Männer arbeiteten fieberhaft an der Beseitigung der Geröllmassen. Durch die schlechte Luft behindert, ließen sie bald vor Erschöpfung die Hacken und Spaten sinken., Als sie aber von der anderen Seite des Hindernisses erste schwache Klopfzeichen der Rettungsmannschaft vernahmen, wurden ihre schwindenden Kräfte neu entfacht. Sie arbeiteten fieberhaft – der Rettungsmannschaft entgegen. Immer dann, wenn ihre Kräfte verausgabt waren, horchten sie gespannt auf die näherkommenden Klopfzeichen der Helfer und begannen mit neuem Mut, den Rest ihrer Kraft zu sammeln und für ihre Rettung einzusetzen.
(aus: Will HOFFSÜMMER, Kurzgeschichten 5)
Am Tag von Mariä Empfängnis, genauer: dem Fest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Mariä, mutet diese Geschichte wohl etwas eigenartig an. Maria kommt nicht vor, nur Bergleute, die verschüttet worden sind. Und von der Erbsünde ist auch weit und breit nichts zu lesen, nur von der Behinderung durch die schlechte Luft. Und dann ist da noch die Rede von einer Rettungsmannschaft, von der in den biblischen Erzählungen rund um Maria auch nichts zu finden ist.
Als Maria gerufen wurde, sagte sie ja. So steht es kurz und bündig im NT. Was der Evangelist Lukas hier andeutet, würde man heute vielleicht so schreiben: „Jesus Christus, in finsteren Stunden wie in Stunden voll Licht klopfst du bei uns an und wartest auf unsere Antwort.“ Frère Roger Schutz verwendet dieses Bild vom anklopfenden Christus vielfach in seinen Texten. An jeden Menschen ist dieser Ruf gerichtet, in jedem Menschen möchte Gott zur Welt kommen, jeder Mensch sehnt sich nach Erlösung – auch Maria.
Was für ein zeitgemäßes Bild: „Durch die schlechte Luft behindert“. Vieles rund um uns macht uns zu schaffen. Wenn heute Theologen von den „Strukturen der Sünde“ sprechen, versuchen sie damit die Erbsünde verständlich zu machen. Dass wir hineinverwoben sind in eine Welt, in der Menschen immer wieder Wege des Unheils wählen. Dass wir darunter leiden, uns aber allzu oft einfügen. Und dadurch schuldig werden.
An Maria bringt Lukas zur Sprache, wie Gott den Menschen ursprünglich gewollt hat: frei. Wenn Maria recht verehrt werden will, dann muss man bei Lukas weiterlesen. Denn er beschreibt, dass diese Marienverehrung nur dann gelingen kann, wenn sie auf die Nachfolge Jesu zielt. Was damit gemeint ist, erzählt er im Magnifikat, in dem Maria aufruft zur Umgestaltung dieser Welt, sich gegen die Unrechtsstrukturen aufzulehnen. Im Vertrauen darauf, dass Gott auf der Seite der Menschen steht. Dass er uns retten will aus allem, was uns den Atem nimmt.
Hören wir die Klopfzeichen?
Dreizehn
ANPASSUNG
Die Menschen, das ist bemerkenswert,
gleichen immer mehr
den Schaufensterpuppen.
Kein Wunder,
Dass die Schaufensterpuppen
Immer lebensechter aussehen.
Die eigenen Meinungen, die man
Auf den Partys hören kann,
stammen aus dem Fernsehen.
Kein Wunder,
dass das Fernsehen genau
der Meinung der Leute entspricht.
Die Touristen knipsen
Immer dort, wo die Landschaften
Den Ansichtskarten gleichen.
Kein Wunder,
dass die Natur die Reisenden
fast ein wenig enttäuscht.
Und was die Christen angeht,
so machen sie sich kaum
noch irgendwo bemerkbar.
Kein Wunder,
dass die Schlagerbranche
sich der Wunder annimmt.
(aus: Lothar ZENETTI, Die wunderbare Zeitvermehrung)
Kein Wunder, dass die Kirche nicht attraktiv ist:
- Wir tun uns ja schon schwer in der eigenen Familie oder mit der Nachbarschaft, wenn es darum ginge, neu anzufangen oder über unseren Schatten zu springen…
- Wir witzeln uns über die große Stille hinweg, die zu uns spricht, tagein, tagaus – und merken nicht, dass Unerhörtes uns umgibt…
- Wir urteilen über andere und bringen dabei total Splitter und Balken durcheinander (Mt 7,3)
- Manchmal falten wir die Hände und rühren trotzdem keinen Finger
- Wir sind nicht unfroh über die rege Weihnachtsindustrie, lenkt sie uns doch ganz passabel ab vom Ruf zur Umkehr, der uns von jedem Krippenstrohhalm entgegen schallt…
- Wir wundern uns, dass nur wenige Menschen zum Gottesdienst kommen, weil wir das Wunder der Wandlung nur im Gottesdienst vermuten und uns schwertun, die Wunder im Zuge der Nachfolge Jesu wieder und wieder zu versuchen…
- Nicht müde werden, nicht anpassen, sondern tun, was nottut…
- Weihnachten erinnert uns, dass unsere Menschwerdung mit der Hilfe Gottes gelingen kann – zeit unseres Lebens…
Vierzehn
Erinnerungen an Gott
Unvergesslich der alte Mann im Lichterrausch von Picadilly Circus, über seine Zeitungskiste gebeugt, die Hände gefaltet, versunken im Gebet, unbekümmert der massenhaften Neugier oder der kurzweilig durchbrochnen Gleichgültigkeit, die ihn umbraust. Sein fleckiger Regenmantel verdeutlicht, wie weit er von irdischem Ehrgeiz entfernt ist. Die Lippen bewegen sich, doch nichts wird hörbar, Autohupen und der Vielklang endlos vorbeirollender Motoren, Geschrei und Musik löschen alles aus, so dass niemand den Alten hört, die Stimme Gottes, der unter die eigenen Geschöpfe geraten wie eine Dampfwalze, die kein Ziel kennt, sondern nur den Weg, auf dem sie alles einebnet.
(aus: Günter KUNERT, Tagträume in Berlin und andernorts)
Ich kenn es vom Konferenzzimmer, vom Klassenraum, von den öffentlichen Verkehrsmitteln, von den Beschallungen in Kaufhäusern: die alles überflutende Lautstärke, das Stimmengewirr, die Kakophonie der Geräusche. Kein Raum für Zwischentöne, kein Ort für das verschwebende Schweigen, kein Platz zum Hören auf das Ungesagte.
Die Gegensätze des Alltags machen uns zu schaffen…
… das Geschrei der Welt und die leisen, fast unhörbaren Stimmen
… die Gleichgültigkeit und das bewusste sich-Einlassen-auf
… die Ziellosigkeit und das Arbeiten an dem, was das Leben fördert
… die Dampfwalze und das „Bereitet-dem-Herrn-den-Weg“
…
Ein Bild taucht auf:
„Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange…“ (Jes 11,6 – 8)
Eine Utopie? Ja, aber sie hat schon begonnen. Das Kind streckt seine Arme nach uns aus… immer noch…
Fünfzehn
Um Antwort
Ich werde meinen Mund nicht halten
gegen dich – wie sollte ich?
Unruhig traurig widersetzlich bitter
ist mein Herz in mir.
Wer bist du, dass ich dich so wichtig finde,
dass ich an dich denke, jeden Tag,
dass ich mich an dir messe?
Dreh doch endlich deine Augen
von ihm weg, reden sie gegen mich
– und dann fehlt mir die Antwort.
Ich habe niemals was mit dir zu tun.
Entgegen besserem Wissen fast
richt ich meine Hoffnung noch auf dich.
Mein Schicksal lautet: lebenslang
warten auf dich.
Leben mit einem toten, selbsterdachten
unsichtbaren Geliebten –
warum soll ich
dich nicht aufgeben?
Aber ich kann nicht anders
als rufen: hab mich lieb.
(aus: Huub OOSTERHUIS, Dein Trost ist nah)
Wie kann mein kleines Glück mich hinwegtrösten über das große Unglück, das sich in der Menschheit eingenistet hat wie ein Parasit, ein Virus?
Auch und gerade vor Weihnachten ringen viele Menschen um Antwort. Nah und fern gibt es sie: die Trostlosen, die Trauernden, die Verzweifelten, die angstvoll Kranken, die keinen Sinn Findenden, die Perspektivelosen, die von der Hand in den Mund Lebenden, die Arbeitslosen, die Einsamen, die Flüchtenden,…
Diese endlose Liste von Menschen, die scheinbar von Gott vergessen wurden. Und die sich an jeden noch so dünnen Halm klammern. Immer noch hoffen, immer noch die letzten Bruchstücke ihrer Würde verbittert beäugen… Gibt es Hoffnung für sie? Will Gott in ihnen tatsächlich zur Welt kommen?
Die biblischen Texte sprechen davon, dass Gott Fleisch geworden ist, dass er das Los der Menschen teilt, so bitter es auch sein mag. Diese engstmögliche Nähe, diese Zuwendung, dieses Sorgen um, dieses sich den Menschen aussetzen – nennen wir Liebe.
Uns allen, die wir eigentlich nur eines wünschen: geliebt zu werden, ist diese Liebe zugesagt. Unwiderruflich. Besonders denen, die dieses Weihnachtswunder bitter benötigen.
Sechzehn
Der Islam und der Advent
Der Koran spricht in der 5. Sure, Vers 10, davon, dass Jesus in der Lage war, Tote zu erwecken und Kranke zu heilen, denn Gott hat ihn mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgestattet. Und in Sure 19, die sich ausführlich mit der Geburt Jesu auseinandersetzt, taucht der Name Gottes, des Barmherzigen, ganze zwölf Mal auf, so viel wie in keiner anderen Sure. Der Koran spricht somit vom heilvollen Eingreifen Gottes in die Welt durch Jesus, um seine Barmherzigkeit zu einer erfahrbaren Wirklichkeit zu machen.
Der Advent als Erinnerung an Jesu Ankunft in der Welt ruft auch bei Muslimen in Erinnerung, dass der barmherzige Gott es gut mit uns Menschen meint. Er schaut nicht tatenlos zu, wie Menschen an Corona leiden und daran sterben, aber seine Art des Eingreifens in unsere Welt ist immer vermittelt, um die Freiheit des Menschen nicht zu beeinträchtigen. Gott inspiriert Menschen, um ihnen den Horizont ihrer Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Es liegt aber an uns Menschen, uns als Hände von Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu verstehen…
(Mouhanad KHORCHIDE, in „Die Furche 50, 10.12.2020)
Hätte ich Koran durch Bibel und Sure durch Kapitel ersetzt, wäre der Text wohl glatt als christliche Adventbotschaft eines spirituellen Menschen zu lesen gewesen. Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Uni Münster. Der Soziologe, Islamwissenschaflter und Religionspädagoge setzt sich für einen modernen und aufgeklärten Islam ein. Dafür wird er in den eigenen Reihen teils heftig kritisiert. Unbeirrbar aber arbeitet er an einem 17-bändigen historisch-kritischen Korankommentar. Darin möchte er seine Vision zum Ausdruck bringen von einem Islam als humanistische Religion, die vor allem von Gottesbarmherzigkeit, Gottesliebe und Freiheit geprägt sei.
Er wird uns nicht erspart bleiben, der Blick über den eigenen Tellerrand. Vor allem dann, wenn wir die Weihnachtsbotschaft vom anbrechenden Friedensreich ernst nehmen. Ob es im Dialog mit anderen Religionen geschieht, oder bei den Bemühungen um eine gelebte Ökumene in den eigenen christlichen Reihen, oder in der Begegnung mit Menschen, die sich von keiner religiösen Bewegung angesprochen fühlen:
Die Heilszusage in der Menschwerdung richtet sich immer an alle, die Friedensbotschaft ist keine Insiderverheißung und betrifft nicht bloß eine geschlossene Gesellschaft. Die Wege zu Gott sind so unterschiedlich, wie es die Menschen sind. Und Überlegenheitsdünkel sind völlig unangebracht.
Nicht müde werden und sich hinauswagen in die Begegnung mit dem anderen… denn wir werden am Du zum Ich…
Siebzehn
Wenn wir auf jemanden ärgerlich sind,
können wir uns
die Bedeutung der Vergänglichkeit
bewusstmachen.
Bevor wir anfangen
Zu streiten und zu strafen,
schließen wir die Augen und überlegen:
Wo werde ich in hundert Jahren sein –
Und wo wirst du in hundert Jahren sein?
Wir wissen in Wirklichkeit nicht einmal,
ob wir morgen noch hier sein werden.
Wenn wir dies erkennen,
werden wir heute schon etwas tun wollen.
Was immer wir heute tun können,
um uns und die, die wir lieben, glücklich zu machen,
sollten wir heute tun.
Das ist Einsicht in die Bedeutung von Vergänglichkeit.
Sie gibt uns die Fähigkeit, zu leben und loszulassen.
Wir können uns leicht fühlen
Und frei sein.
(aus: Thich Nhat HANH, Das Leben berühren)
100 Jahre in die Zukunft blicken. Oder 2000 Jahre in die Vergangenheit. Beides ist geeignet, uns unsere Vergänglichkeit bewusst zu machen. Allein der Blick in den Sternenhimmel erfüllt uns mit einem Schaudern, angesichts der zeitlichen Maßstäbe, die der Schöpfung mit auf den Weg gegeben worden sind.
Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, Schriftsteller und Lyriker, ist neben dem Dalai Lama einer der weltweit bekanntesten Vertreter der buddhistischen Religion. Seinem ökologischen und sozialen Engagement sind viele internationale Friedens- und Sozialprojekte zu verdanken. Sein Leitgedanke lautet: „Bevor man nicht mit sich selbst Frieden geschlossen hat und den Krieg im eigenen Herzen und Kopf beendet hat, wird man seinen Mitmenschen nicht wirklich eine Hilfe sein können.“
Auch wenn für einen Buddhisten das Weihnachtsfest keine religiöse Bedeutung hat und noch am ehesten mit dem Geburtsfest Buddhas verglichen werden könnte, gibt es doch wichtige Parallelen, besonders im Brauchtum.
So sind das einander Beschenken, die liebende Güte, der Gemeinschaftssinn und die Harmonie zentrale Begriffe in der buddhistischen Lehre. Diese Herzenseinstellung ist im Buddhismus allen Menschen gegenüber angesagt. „Alles, was auch nur ein wenig dazu beiträgt, die mannigfaltigen Formen von Leid zu mildern, wird begrüßt“, sagt z.B. der buddhistische Mönch Bikkhu Philipp Thitadhammo.
Wenn wir uns so lange auf das Weihnachtsfest vorbereiten (sollen), hat das auch den Hintergrund, dass meine Achtsamkeit wieder geweckt, mein Wertschätzen des Augenblicks wieder angeregt und das Gespür dafür, den richtigen Moment nicht zu verpassen, eingeübt werden sollen. Denn nur dann kann das Wesentliche, das Eigentliche in den Sinn kommen. „Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen,“ heißt es im Matthäus-Evangelium. Achtsam im Heute leben – dann kann das Fest des Friedens beginnen…
Achtzehn
Das ewige Wunder
Die Worte, die von dem Gedenken und Feiern des Wunders von Chanukka gesprochen werden, »Und man hat es festgesetzt, deinem großen Namen zu danken und zu lobpreisen«, legte Rabbi Mendel so aus: »Man hat alle so sehr mit der Kraft des Wunders durchdrungen, damit sie auf das Wunder achten, das immerzu geschieht.«
(aus: Martin BUBER, Die Erzählungen der Chassidim)
Letzte Woche wurde das jüdische Fest Chanukka gefeiert. Es ist ein achttägiges Lichter- und Freudenfest. Der Legende nach soll sich bei der Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im 2. Jh. v. Chr. ein Lichtwunder ereignet haben: bei der Entweihung des Tempels durch die Seleukiden war das ewige Licht der Menora, des 7-armigen Leuchters, gelöscht und das Öl verschüttet worden. Die Menora steht im Judentum für die Anwesenheit Gottes und durfte daher im Tempel niemals erlöschen. Im Vorrat befand sich nur noch ein winziges Fläschchen mit wenigen Tropfen Öl. Sie konnten kaum ausreichen, die Flammen des siebenarmigen Leuchters auch nur einen Tag lang brennen zu lassen. Doch Nachschub war erst in acht Tagen zu erwarten. Doch wie durch ein Wunder sollen die Lichter des Leuchters mit dem winzigen Ölrest Tag für Tag für Tag gebrannt haben – bis nach acht Tagen schließlich neues Öl hergestellt und herangebracht war.
Die christliche Lichtsymbolik rund um Advent und Weihnachten ist sehr ausgeprägt, die Vermehrung des Lichts der Kerzen am Adventkranz weist eine starke Parallele zum 9-armigen Chanukkaleuchter auf, dessen angezündete Kerzen von Tag zu Tag mehr werden – bis der 8. Tag erreicht ist.
Auch wir kennen das ewige Licht in der Kirche, das darauf hinweist, das Gott Wohnung genommen hat unter den Menschen, ein Zeichen, das bis zum heutigen Tag auch in den Synagogen zu finden ist, wo eine Lampe vor dem Schrein mit den Schriftrollen brennt.
Ausgangspunkt dieser beiden parallelen Gepflogenheiten ist ein Vers bei Jesaja: „…denn der Herr ist dein ewiges Licht, zu Ende sind deine Tage der Trauer“ (Jes 60,20).
Wenn auch Juden im Juden Jesus nicht den von ihnen erwarteten Messias sehen, bleibt trotzdem der gemeinsame Glaube an den Schöpfergott, der unter ihnen wohnen will. Sein Wohnort war ursprünglich das Zelt der Bundeslade. Eine Nomadentradition, an die der Stall in Bethlehem anknüpft. Auf dass das Wunder, das immerzu geschieht, den Menschen vor Augen stehe. Und das Ende der Tage der Trauer keine leere Versprechung ist…
Neunzehn
Gottes innerstes Geheimnis
Das ist die entscheidende Pointe, auf die es in der Rede von der Menschwerdung Gottes ankommt: Gott zeigt den Menschen sein innerstes Geheimnis nicht in ästhetischen Naturerlebnissen, nicht in einem heiligen Buch und nicht in einer gesetzlichen Ordnung, deren Befolgung Wohlergehen und Sicherheit verheißt. Wer Gott für den Menschen ist, das offenbart er in der Geburt, im Leben und in der Botschaft eines Menschen, des Jesus von Nazaret. Seine Geburt im Stall zeigt uns den einzigen Ort, an dem Gott sich von jedem Menschen, ob er nun gläubig ist oder zweifelt, ob er getauft oder ungetauft, fromm oder atheistisch ist, sicher finden lässt: in der Not der Anderen (vgl. Mt 25,31ff)… wirklich verstanden haben wir das Kommen Gottes, wenn wir uns von der Liebe Gottes dazu provozieren lassen, zu Menschen des Friedens zu werden: wenn wir also den Schrei aller Menschen nach Gerechtigkeit und Frieden nicht überhören und denen unsere Stimme leihen, die durch Gewalt, Einschüchterung und Unterdrückung zum Verstummen gebracht werden. Nur so bleibt die Provokation lebendig, die von Weihnachten, dem großen Fest der Liebe Gottes, ausgeht.
(aus: Eberhard SCHOCKENHOFF, Frieden auf Erden? Weihnachten als Provokation)
Die Hirten, die Sterndeuter aus dem Osten, Herodes, der behauptet, das Kind anbeten zu kommen: in den Kindheitserzählungen des Matthäus und des Lukas repräsentieren sie die ganze Menschheit. Vom Unbedeutendsten bis zum Herrscher, dem Nächsten wie dem Fernsten: jeder Mensch ist gerufen, in den Nöten des anderen sich selbst und Gott zu finden. Die Würde des Menschen und seine Rechte hochzuhalten wiegt mehr als das Interesse daran, ungestört das eigene Leben und das darin Erarbeitete genießen zu können.
Anders gesagt: Frieden mit sich und der Familie und den Freunden zu leben, modellhaft besonders rund um Weihnachten, ist die Einstimmung darauf, als Mensch der Gemeinschaft, als soziales Wesen tätig zu werden. Dass es uns gut geht, kann auch als Befähigung interpretiert werden, sich um Menschen zu kümmern, denen das Leben böse mitspielt. Die Weihnachtsidylle zu zelebrieren und dabei den Blick auf den Ursprung dieses Festes auszuklammern, erinnert mich an die Geschichte einer Frau, die die Nacht auf einem Wohltätigkeitsball zugebracht hatte und beim Verlassen des Festes von einem Obdachlosen angebettelt wurde. Und die entrüstet eine kleine Gabe zu geben abgelehnt hat mit den Worten: „Seien sie nicht undankbar. Ich habe doch für sie die ganze Nacht durchgetanzt!“
Damit kein Missverständnis entsteht: Selbstverständlich sind auch Naturerlebnisse, spirituelle Texte, Weisungen und Lebenshilfen Wege zum tieferen Verständnis vom Leben und dessen Ursprung. Wer aber sein Ohr an das innerste Geheimnis des Universums, an das pulsierende Herz der Welt halten will, der muss hinhören auf den Schrei des Kindes in der Krippe, auf die Stimme des Menschen aus Nazaret, auf das Ungesagte in den Augen deren, die in Not sind. Dann kann uns dämmern, worin das Wunder dieses weihnachtlichen Tausches liegt: Gott wird Mensch, um uns zu sagen: Ihr seid für mich unendlich wertvoll. Ich möchte bei euch/mit euch/in euch wohnen…
Zwanzig
WIR UND DU
Das Leben bietet Lärm.
Geschäftigkeit und Events ohne Ende,
Du lädst ein zur Stille,
die Welt versorgt uns mit Straßen
am Boden, zu Wasser und in der Luft,
Du bietest uns einen Weg,
die Menschheit hat Termine, Programme,
ein weltweites elektronisches Netzwerk,
Du bietest das Wort,
die Wissenschaft sucht Erklärungen,
Prinzipien und logische Beweise,
Du gibst den Glauben,
die Geschäftswelt fördert Gier
und Konsum um jeden Preis,
du bietest Liebe.
Wir feilschen um
Tage, Minuten, Sekunden –
Du wartest …
(aus: Ana SCHORETITS, aushalten. Gedichte und spirituelle Annäherungen an Gott)
Was, wenn es gerade umgekehrt ist? Was, wenn der Advent nicht von unserem Warten auf das Geburtsfest Jesu erzählt, sondern vom Warten Gottes auf unsere Menschwerdung? Wenn das Feiern der Advent- und Weihnachtszeit eigentlich bedeutet, dass wir Tür um Tür in unserem Inneren öffnen sollen, um zum Licht in unserer Mitte vorzudringen? Wenn die Vorbereitungsrituale nur Krücken sind dafür, wieder mein Potential auszuschöpfen, und nicht mehr länger unter meinen Möglichkeiten zu bleiben, also unter dem, was Gott immer schon mit mir vorhatte?
Als ich noch klein war, habe ich mich gewundert, dass zu Weihnachten ein Geburtstagsfest gefeiert wird, bei dem so getan wird, als wenn Jesus Jahr für Jahr zur Welt gebracht wird. Dass ich also warten musste auf etwas, was längst ein für alle Mal geschehen ist. Natürlich lernte ich in weiterer Folge dazu, dass dieses Erinnerungsfest im Laufe des Kirchenjahres seinen festen Platz hat und dass besondere Geburtstage allemal eine besondere Feier wert sind. In gleichem Maße wuchs aber in mir der Verdacht, dass dieses äußerliche Zeremoniell allzu leicht vom inneren Geschehen ablenkt, dass es sich leicht hinter Krippen, Sternen, Weihrauchschwaden und Wort- und Liedkaskaden verstecken lässt…
Wenn wir das äußere Geschehen in den Mittelpunkt rücken, gerät diese andere Wirklichkeit schnell aus dem Blick. Ana Schoretits stellt diese zwei Welten sehr pointiert gegenüber. Was wäre, wenn die eigentlichen Advent- und Weihnachtsgottesdienste dort stattfinden, wo dieses zu meiner Mitte Finden gelingt – im sozialen Agieren, im Mitleiden, im aktiven Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden? Auf dass Gott in mir nicht umsonst wartet… und auf dass der liturgische Gottesdienst zur Gipfelerfahrung wird, der ich mich im Alltag davor Schritt für Schritt angenähert habe…
Einundzwanzig
Weihnacht
Die Stadt badet im Schnee
Der Kranz grünt
auf der verriegelten Tür
Das Christkind bittet
um Einlass
denn es ist kalt
in der Stadt im Land in der Welt
aus Schnee und Weihrauch
(Rose AUSLÄNDER, aus: Die schönsten Weihnachtsgedichte)
Fast ein stimmiges Weihnachtsgedicht. Auf den zweiten Blick aber geht mir dieser Text durch Mark und Bein. Die Worte „verriegelt“ und „Weihrauch“ lassen mich nicht mehr los. Ich denke an die zahlreichen hell illuminierten Häuser, an denen ich beim abendlichen Spaziergang vorbeikomme. So viel äußerer Schein. Sind diese Lichter Symbol dafür, dass die Herzen offener stehen als außerhalb der Advent- und Weihnachtszeit? Sind es einladende Lichter? Orientierung bietend, nach dem Motto: „Das Volk, das im Dunkel lebt, / sieht ein helles Licht? (Jes 9,1)
Und die Stadt, das Land, die Welt aus Schnee und Weihrauch – überall Kälte. Wenn die jüdische Schriftstellerin Rose Ausländer (1901 – 1988) über das Christkind aus dem Judentum schreibt, das um Einlass bittet, werden die Religionsgrenzen gesprengt. Und der Blick richtet sich auf die Welt, das Menschsein und den Zeitgeist. Was der Schnee alles zudeckt und der Weihrauch verschleiert, lässt erschaudern. Ihre Reflexion auf die Zeit des jüdischen Ghettos in ihrer Heimatstadt Czernowitz in der heutigen Ukraine ist ein Aufschrei. Jetzt beginnt auch der Eingangssatz zu irritieren: Eine Stadt, die im Schnee badet, sich in der Kälte zu reinigen versucht, hat einiges zu verbergen unter der Decke, hinter den verriegelten Türen…
Der Text ist aktueller denn je. Das Erschrecken, das er erlöst, könnte heilsam sein…
Als „tröstlichen Gegentext mit Widerhaken“ möchte ich „Mein Credo“ von Christine Busta dazufügen. Christine Busta (1915 – 1987), österreichische Lyrikerin, stellt sich in die lange Tradition christlicher Überlieferung, bekennt sich unablässig zu ihr. Ein Text, der für mich Weihnachten am hellsichtigsten zur Sprache bringt:
Mein Credo
Das einzige Haben,
das uns in dieser Welt
schuldlos gewährt ist,
ist das Liebhaben.
Aber wievielen
Bin ich es schuldig geblieben?
Niemand ist perfekt. Braucht es auch nicht zu sein. Aber selbstkritisch bleiben und umkehren und uns versöhnen stehen uns gut zu Gesicht…
Zweiundzwanzig
Rettender Aufbruch
In einem alten Buch über die Fischer der Lofoten lese ich: Wenn die ganz großen Stürme erwartet werden, geschieht es immer wieder, dass einige der Fischer ihre Schaluppen (=Küstenfahrzeug) am Strand vertäuen und sich an Land begeben, andere aber eilig in See stechen. Die Schaluppen, wenn überhaupt seetüchtig, sind auf hoher See sicherer als am Strand. Auch bei ganz großen Stürmen sind sie auf hoher See durch die Kunst der Navigation zu retten, selbst bei kleineren Stürmen werden sie am Strand von den Wogen zerschmettert. Für ihre Besitzer beginnt dann ein hartes Leben.
(aus: Willi HOFFSÜMMER, Kurzgeschichten 3)
Bei dem alttestamentlichen Bibelwissenschaftler Hermann Seifermann hab ich die Übersetzungsvariante kennengelernt, dass sich Adam und Eva nicht vor Gott versteckten, sondern – präziser aus dem Hebräischen übersetzt – sich beide „im Antlitz Gottes“ bargen. Also, könnte man sagen, die Flucht nach vorne antraten. Weil Gott eine Zuflucht ist, ja, DIE Zuflucht schlechthin. Nicht weg von der Rettung, sondern ihr entgegen. Gewiss der schwierigere Weg, weil er riskant ist, weil er Mut erfordert und vor allem eine Einsicht voraussetzt. Die Einsicht, dass das sich Bereitmachen für die Rettung etwas höchst Aktives sein kann, ja gelegentlich sein muss – siehe die Fischer auf den Lofoten.
Auch das „Bereitet dem Herrn den Weg, ebnet ihm die Straßen…“ klingt nicht unbedingt nach Hände-in-den-Schoß-legen… und auch wenn die Einsicht der Umkehr der inneren Besinnung bedarf: Umkehr hat immer mit Aufbruch zu tun. Schritt für Schritt, Ruderschlag um Ruderschlag. Durch die Lebensstürme navigieren lernen, ein Gespür dafür entwickeln, wann die Zeit der Sammlung/des Gebetes/der inneren Einkehr ist, und wann die des Handelns…
Es ist das eine, für z.B. den Nachbarn, den ich meide, die Schöpfung, die hungernden Menschen und die auf der Flucht, usw. zu beten. Das andere aber ist es, aufzubrechen, das „gefrorene Meer in uns“ (F. Kafka) zu zerschlagen und ohne Vorleistung Schritte auf den Mitmenschen zuzugehen, mit dem ich mir schwer tue, die Schöpfung aktiv zu bewahren und zu teilen mit und Herberge zu sein für Notleidende(n). Auf dass ich eine erste Ahnung bekomme von Weihnachten und damit auch selbst Trost erfahren darf…
Papst Franziskus sagt es – in liturgischer Sprache – so (gelesen am 16.12.2020 in den Vatican News): „Im Gebet nimmt uns Gott, segnet uns, bricht uns entzwei und teilt uns aus für den Hunger aller Menschen. Jeder Christ ist dazu berufen, in den Händen Gottes gebrochenes und mit anderen geteiltes Brot zu sein. Es geht um ein konkretes Beten, das keine Flucht darstellt.“
Dreiundzwanzig
An einem gewöhnlichen Vormittag
Ein Anruf für Sie, sagt
die Kollegin fassungslos
zu mir herüber: Wenn ich
recht verstanden habe
aus dem Paradies.-
Hörst du mich, so tönt es
leise aus der Muschel,
hast du mich noch lieb?
Und ob, sage ich, sehr,
gib acht auf deine Flügel!
Die Kollegin schaut entgeistert.
Es war mein Engel, sage ich.
(Lothar ZENETTI)
Spätestens seit Filmen wie „Der Himmel über Berlin“ oder „Die Stadt der Engel“ sind sie wieder Gesprächsthema, ohne dass man riskiert, mild belächelt zu werden. In der Esoterik und in der Werbung sind sie fixer Bestandteil, und das Reden vom Schutzengel, den man in manchen Situationen gehabt hat, ist nie verstummt.
In allen alten Kulturen und Religionen wird von ihnen als geflügelten Geistwesen erzählt. Ob z.B. in Mesopotamien, bei den Griechen oder Ägyptern, oder in den vedischen Schriften der Hindus. Zumeist hatten sie eine Botenfunktion. Ob als Ahnen, Seelen, Geister, Dämonen oder Mächte bezeichnet, sind sie allesamt Mittler zwischen Mensch und Gott/Göttern. Die biblischen Schriften wurden stark von diesen antiken Texten beeinflusst. Manchmal beschrieben als junge Männer (z.B. am Grab Jesu oder beim Besuch bei Abraham), werden sie in der Frührenaissance häufig als liebliche Jungfrauen dargestellt. Grundsätzlich aber werden sie für geschlechtslos gehalten.
Da sie in der Bibel als geschaffene Wesen bezeichnet werden, ist Engelverehrung nicht angebracht. Wenn rund um die Geburtserzählung Jesu Engel eine wichtige Rolle spielen (Maria, Josef, Hirten), wird auf literarisch einprägsame Weise auf die Besonderheit dieses Kindes hingewiesen. Und wenn Mk 12,25 davon spricht, dass wir in der Auferstehung „sein werden wie die Engel im Himmel“, dann werden wir in diese Dynamik, die mit Jesu Geburt anhebt, hineinverwoben, wenn wir uns von diesem Kind im Stall berühren lassen.
Mag man es formulieren wie Papst Benedikt: „Engel sind Ausdruck der Größe und Güte des Schöpfergottes“ oder wie moderne Theologen wie z.B. Claus Westermann: „Der Engel kommt ins Sein mit seinem Auftrag, er vergeht mit der Erfüllung seines Auftrags, denn seine Existenz ist Botschaft“: Als Künder des Paradieses, der liebenden Zuwendung Gottes vermitteln sie allemal eine Trost- und Frohbotschaft! Die Arten des „Anrufs“ können dabei sehr variieren… Ich wünsche uns allen, dass wir nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten…die Größe der Flügel ist dabei wohl nicht entscheidend…
Vierundzwanzig
Der Weihnachtsstern
Wieder glänzt der Abendstern
Und entzündet all die andern
Himmelslichter nah und fern.
Und er mahnt auch mich, zu wandern
Durch das riesengroße All,
eine Reise anzutreten,
um in einem kleinen Stall
hinzuknien und anzubeten,
wo ein Kindlein diese Welt,
diese unermesslich weite,
große, dunkle, tiefe, breite,
in den kleinen Händen hält.
(aus Georg THURMAIR, Hausbuch zur Advents- und Weihnachtszeit)
Es war ein faszinierendes Schauspiel am Abendhimmel. Diesen Montag (am 21.12.2020) standen sich Jupiter und Saturn für kurze Zeit so nahe, dass sie wie 1 großer Himmelskörper wahrgenommen werden konnten. Manche Neutestamentler werden sofort an die selbige Konstellation 7 v. Chr. gedacht haben. Ihrer Meinung nach haben Magier aus dem Osten diese Himmelserscheinung zum Anlass genommen, Richtung Jerusalem aufzubrechen.
Andere Bibelwissenschaftler, vor allem solche, die historisch-kritische Methoden auf antike Texte anwenden, bestreiten astronomische Bezüge in den „Kindheitsgeschichten“. Sie deuten den Stern im Matthäusevangelium als mythologisches oder symbolisches Verkündigungsmotiv. Dieses wird ihrer Meinung nach in die Geburtsgeschichten eingebettet, die als später entstandene Legenden mit theologischen Aussageabsichten zu deuten seien. Die einen sehen im aufgehenden Stern einen Wegweiser zu dem Kind, die anderen wiederum ein Sinnbild des Messias. Letztere erkennen im Satz „Wir haben seinen Stern aufgehen gesehen“ eine Anspielung auf die Bileamsverheißung im Alten Testament (Buch Numeri). In dieser wird der Messias angekündigt. Und zwar mit dem Bild eines aufgehenden „Sterns aus Jakob“. Hintergrund dafür sind wiederum ägyptische und altorientalische Aussagen, die Könige und Sterne in eine enge Verbindung bringen.
Aber egal, für welchen dieser Ansätze wir Sympathie aufbringen: Spätestens beim Blick in den funkelnden Sternenhimmel, beim Lauschen auf dieses große Schweigen dieser schier unendlichen Räume des Weltalls rührt uns etwas an. Tief im Innern. Und diese Reise, die in diesem Augenblick anhebt, gilt es, fortzusetzen. Nicht müde zu werden, damit dieser Funke in uns nicht erlischt. Dieses kleine Licht, das alle Dunkelheit vertreibt.
Gesegnete Weihnachten!
© Robert Brunbauer